Analyse der politischen Lage in Kurdistan, der Welt und der BRD

Die Krise gehört zum Kapitalismus wie der Gestank zum Dreck. Zunehmend beschleunigt die sogenannte Coronakrise bereits zuvor vorhandene Krisenerscheinungen dieses Systems und zeigt deutlich, dass sie nicht unabhängig voneinander zu verstehen sind. In der Folge eskaliert die Lage weltweit zunehmend auf verschiedenen Ebenen bis hin zum Krieg mit unabsehbaren Folgen. Rassismus, Antifeminismus, Rechtsruck, Polizeiterror und Repression sind die Mittel der herrschenden Klasse, um die Unterdrückten gegeneinander auszuspielen und potentiell antisystemische Kräfte zu zerschlagen. Die Internationalistin Lisa Schelm analysiert die bestehende Situation und weist auf die zentrale Bedeutung der Frage der Organisierung hin.

Der folgende Text erschien am 8. Januar auf der Nachrichtenseite ANF.

„Die Internationalistin Lisa Schelm analysiert das derzeitige globale und regionale Chaosintervall sowie die verschiedenen Kräfte und Fraktionen, die sich bei der Suche nach Auswegen gegenüberstehen. Ihre Perspektive: Demokratischer Konföderalismus.

Wir müssen als Internationalist*innen in der Lage sein, die politischen Ereignisse weltweit zu verstehen und in Verbindung mit unserer alltäglichen Politik zu setzen. In Zeiten der Globalisierung, in denen die verschiedenen Prozesse immer undurchsichtiger und verworrener werden, müssen wir uns in Analysen schulen, um gemeinsame Perspektiven für unsere alltäglichen Kämpfe zu schaffen, die sich in einer allgemeinen Strategie der antisystemischen Kräfte [1] global gegen das Weltsystem richten. Dieser Artikel soll einen Beitrag dazu leisten. Er ist eine Ergänzung zu den Perspektiven und Analysen der politischen Lage in Kurdistan und der Welt, unter anderem der Kampagne RiseUp4Rojava.

Das aktuelle Chaosintervall [2] ist in allen gesellschaftlichen Bereichen, von der Ökonomie, Ökologie, dem politischen System bis zur Moral und Ethik, sowohl global als auch regional deutlich sichtbar. Das Alte stirbt ab, das Neue ist noch nicht geboren und die aktuelle Phase ist durch die Suche nach Auswegen aus diesem Chaos geprägt.

In dieser Suche stehen sich verschiedene Kräfte und Fraktionen gegenüber. Dies beobachten wir sowohl auf globaler, als auch nationalstaatlicher Ebene. Wir können sie verschiedenen Lagern mit unterschiedlichen Strategien zuordnen:

1. Die konservativen Kräfte. Diese halten am Status Quo fest. Sie bieten keine neuen Ideen und Perspektiven, verharren in alten Denk- und Handlungsmustern.

2. Die faschistischen Kräfte. Diese Kräfte versuchen mit einer zunehmend faschistoiden, autoritären Staatspolitik, offener Militarisierung der Gesellschaften und Vernichtungsstrategien, den Übergang aus dem Chaos, in ein wieder mehr oder weniger stabiles System zu schaffen.

3. Die neoliberalen Kräfte. Sie versuchen über eine Vertiefung der Ausbeutung und Erneuerung des Kapitalismus eine Antwort aufs bestehende Chaos zu liefern. Ihr Programm ist die immer tiefere kapitalistische Inwertsetzung des Lebens selbst, über neue Technologien etwa. Ihr Versprechen ist ein neuer „Green Deal“ zwischen Kapital und Natur. Insbesondere diese Kräfte versuchen immer wieder Errungenschaften der antisystemischen Kräfte aufzugreifen und zur eigenen Erneuerung einzusetzen.

4. Die revolutionären, antisystemischen Kräfte. Diese haben es jedoch bisher nicht geschafft, eine gemeinsame konkrete Alternative zu formulieren und diese in die Praxis umzusetzen.

Lage und Strategien der zentralistischen, staatlichen Kräfte auf globaler Ebene

Die staatlichen, zentralistischen Kräfte geraten auch auf globaler Ebene immer wieder in tiefere Konflikte und Widersprüche. Diese Entwicklung können wir unter anderem in den zunehmenden Spannungen zwischen Indien und Pakistan sehen. Auch im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan geht es nicht zuletzt um Konflikte staatlicher Kräfte um Einflussgebiete. Auch hier treten die flexiblen Strategien der Staaten in der Führung dieser Auseinandersetzungen auf. So unterstützen Staaten wie Russland sowohl Armenien als auch Aserbaidschan. Russland stellt sich als Armeniens Schutzmacht dar, profitiert jedoch auch von der Aufrüstung Aserbaidschans. Wie auch in Syrien setzt die Türkei in diesem Konflikt auf dschihadistische Kräfte als ihre paramilitärischen Kräfte und setzt überwiegend Kampfdrohnen ein.

Europa und die Türkei

Nicht nur, aber auch aufgrund des Konflikts in Armenien gerät die Türkei international zunehmend unter Druck. In den vergangenen Monaten haben sich die Beziehungen zwischen Türkei und EU, insbesondere zwischen der Türkei und Frankreich, verschlechtert. Auch öffentlich positionierte sich Frankreich entschiedener gegen die Türkei, was zu einem Boykott-Aufruf der Türkei gegen Frankreich führte. Damit gab Erdogan das klare Signal, dass Frankreich als Angriffsziel für islamistische Anschläge gelte. Dies steht im Wechselverhältnis zum stärker werdenden antimuslimischen Rassismus in Frankreich. Dabei ist die Veröffentlichung der rassistischen Karikaturen nicht nur Provokation für islamistische Gruppen, sondern sind eine Respektlosigkeit gegenüber Muslimen im Allgemeinen. In dieser Dynamik werden vor allem antisystemische Kräfte, die sich in der muslimischen Welt zwischen IS und europäischem Kolonialismus bewegen, geschwächt.

Die Zuspitzung des Konflikts führte zu ersten Einschränkungen in den Waffenexporten an die Türkei. So kündigte Österreich an, keine Motoren für Kampfdrohnen mehr an die Türkei zu liefern. Vor dem Hintergrund, dass die Türkei mittlerweile durch Eigenentwicklung oder Lizenzproduktion das meiste Kriegsgerät selbst herstellen kann und dadurch weniger auf Waffenimporte aus anderen Ländern angewiesen ist, ist dies zwar ein wichtiger, aber dennoch nicht viel mehr als ein symbolischer Schritt, der viel zu spät kommt.

Im Konflikt zwischen der EU und der Türkei spielt die Bundesrepublik Deutschland weiterhin eine relativierende und zurückhaltende Rolle und hält somit der Türkei auf internationaler Ebene den Rücken frei.

Die zunehmenden Diskussionen über die Einschränkungen der politischen Organisierung der faschistischen türkischen Kräfte in Europa, wie das Verbot der Grauen Wölfe, kann sich positiv auf die Möglichkeiten, die die kurdische Freiheitsbewegung in Europa hat, auswirken.

An den Außengrenzen

Währenddessen geht Europas Abschottungspolitik mit unverminderter Brutalität weiter, sei es die Auflösung von Flüchtlingslagern in Bosnien, die Zustände in den Lagern in Griechenland und auf den Kanaren, oder das Fortführen und Wiederaufnehmen von Abschiebungen. So diskutiert die Bundesregierung auch über Abschiebungen in die besetzen Gebieten in Nord-und Ostsyrien, die nun wieder sicher wären. Dies wiederum legitimiert die Besatzungspolitik der Türkei in Syrien weiter.

Kurdistan

Nord- und Ostsyrien/Rojava: Aufgrund des Drucks Russlands musste sich die Türkei aus Teilen von Idlib zurückziehen und hat diese an das syrische Regime übergeben. Diese Bewegungen können als eine Einigung zwischen Russland und der Türkei verstanden werden, die Gebiete in Idlib gegen die Billigung eines erneuten Angriff auf Nord- und Ostsyrien, im speziellen Ain Issa, zu tauschen.

Nordirak/Südkurdistan: Nach der Verlegung von PDK-Truppen in Guerilla-Gebiete sprechen die HPG von der zunehmenden Gefahr eines innerkurdischen Krieges. Diese Zuspitzung und Provokation steht im Zusammenhang der Verluste der Türkei in ihrem Angriffskrieg auf Heftanin, der nun durch die PDK weitergeführt werden soll.

Der Versuch der irakischen Armee, in Dörfern im Şengal Waffen einzuziehen, erinnert an die Entwaffnung der Ezid*innen vor dem Angriff des IS 2014 und geht zurück auf das Abkommen zur Zukunft der Region, das im Oktober zwischen der irakischen Regierung und der südkurdischen Regierungspartei geschlossen wurde. In diesem wurde die Aufteilung der Region und die Auflösung der Selbstverteidigungseinheiten (YBŞ) und der Selbstverwaltung beschlossen. Währenddessen warnt der Şengal-Rat (MXDŞ) vor dem 75. Genozid an den Ezid*innen. Schon in den vergangen Jahren kam es mit Bombardierungen immer wieder zu gezielten Angriffen der Türkei auf das Gebiet und die Bevölkerung im Şengal.

Die Lage staatlicher Kräfte in der BRD

Die Skizzen der verschiedenen Kräfte und Strategien auf das aktuelle Chaos zu reagieren, lassen sich auch auf die politische Lage in der BRD übertragen. Betrachten wir die politischen Parteien in der BRD können wir diese in verschiedene Lager, mit eigenen, sich teils überschneidenden Strategien einteilen.

1. AfD: Das Spektrum der AfD repräsentiert das national-konservative bis zum offen faschistischen Lager. Es setzt auf einen nationalistischen, antifeministischen und rassistischen Diskurs und spricht das lokale Kleinkapital und mittelständige Betriebe an. Die Krisenstrategie ist die propagierte Abschottung gegen Migration und internationalem Kapital hin zum nationalen Markt, die Reorganisierung der Gesellschaft nach konservativen Rollen- und Geschlechterbildern und eine weitere Kürzung der sozialen Leistungen.

2. CDU/CSU: Dieses Spektrum repräsentiert eine neoliberale, konservative Strategie im Rahmen des hegemonialen Projekts Europa. Es versucht am Alten festzuhalten, nimmt dabei aber kleine Erneuerungen zur Überwindung der aktuellen Krise in Kauf.

3. Die Grünen: Sie schaffen es derzeit, sich als Vermittler zwischen einem neuen wirtschaftlichen und ökologischem Aufbruch und konservativen Tendenzen darzustellen. Ihre Strategie ist der Ausweg aus der ökologischen und ökonomischen Krise mit einem „Green New Deal“, der die Erneuerung des internationalen Kapitals sicherstellen soll.

4. SPD: Weiterhin hat es das Spektrum der Sozialdemokratie nicht geschafft, eine Strategie für sich zu entwickeln und sich so aus ihrer eigenen Krise zu befreien. Die SPD hängt daher der neoliberalen Linie an, schafft es aber nicht im gleichen Maße wie die Grünen die Erneuerung zu vollziehen.

5. Die Linke: Als Teil der Regierung verfolgt die Linke eine sozialere aber dennoch neoliberale Politik, während sich die Basis eher aus antisystemischen Kräften zusammensetzt.

Flügelkämpfe, Börsengänge, Industriekapital, tiefer Staat

Gerade vor der anstehenden Bundestagswahl im Oktober 2021 finden auch verschiedene Richtungskämpfe innerhalb der Parteien, als auch Spektren-übergreifende Versuche der Einigung auf Linien statt. Innerhalb der CDU zeigen sich die Flügelkämpfe zwischen der „Werteunion“ um Merz und dem Lager von Merkel. Es geht dabei um eine Verschärfung in der Migrations- und Sozialpolitik, die wiederum eine Öffnung in Richtung AfD zulassen würde. In der AfD finden derzeit Flügelkämpfe zwischen dem bürgerlichen Kernklientel der Partei und dem nationalistischen „Flügel“ statt. Dabei geht es auch um eine mögliche Koalitionsfähigkeit mit dem national-konservativen Teil der CDU/CSU. Um die Koalitionsmöglichkeit geht es auch innerhalb der Grünen. Sie stehen vor zunehmender Kritik aus ihrer Wählerschaft, zuletzt aufgrund ihrer Politik im Dannenröder Wald. Diese Politik können wir einordnen in das Vorhaben der Grünen, ihre Koalitionstreue in Hessen unter Beweis zustellen und sich damit als Partnerin der CDU auch auf Bundesebene zu profilieren.

Auf wirtschaftlicher Ebene entlarvt sich die fortwährende Propaganda des Staates in der Krise zunehmend, die die sozialen und ökonomischen Konflikte und Diskrepanzen zu verschleiern sucht. Trotzdem und wegen der Corona-Krise ist 2020 im Vergleich zu vergangenen Jahren die Zahl der Unternehmen, die an die Börse gegangen sind, um 15 Prozent gestiegen. Die neuen Unternehmen kommen vor allem aus den Bereichen Technologie und Gesundheit. Dies verdeutlicht auch die Chance, die das neoliberale Erneuerungsprojekt derzeit hat, als Gewinner aus der Krise zu gehen.

Die Autoindustrie erholt sich und verkauft mittlerweile wieder mehr Fahrzeuge als letztes Jahr. Das Industriekapital ist von Corona allgemein weniger betroffen, im Gegensatz zu Dienstleistungsbranchen.

Auch die Organisierung des „Tiefen Staates“ in der BRD geht weiter. Neue Waffenfunde lassen auf aktive Vorbereitungen eindeutig faschistischer Kräfte aus Polizei und KSK schließen. Die Reaktionen der Staatsparteien und der staatlichen Institutionen sind, wie zu erwarten war, in diesem Zusammenhang sehr gering, aber auch die Reaktionen der gesellschaftlichen Kräfte sind bisher nur schwach ausgeprägt.

Aktive Angriffe des Staates gab es hingegen auf verschiedene revolutionäre Organisationen, internationale Strukturen und linke Projekte. Besonders die Anzahl der offenen 129-Verfahren, wie in Leipzig, Frankfurt, Berlin, Hamburg und die Durchsuchungen in diesem Zusammenhang zur gleichen Zeit in Athen, sind ein klares Zeichen staatlicher Organe, gegen linke Kräfte über die Bundesgrenzen hinaus gemeinsam vorzugehen und weisen eine neue Dimension auf. Zunehmender Repression sehen sich politisch aktive Menschen ohne deutschen Pass vor allem in Bayern und Baden-Württemberg durch das Aufenthalts- und Asylrecht ausgesetzt. Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben und ihrer Arbeit nachgehen, werden als „Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands“ aufgebaut, weil sie etwa Vorstandsfunktionen in legalen kurdischen Vereinen übernommen haben.

Gesellschaftliche Dynamiken im Zusammenhang mit Corona in der BRD

Auch in den letzten Wochen gingen die Demonstrationen aus dem Spektrum der Verschwörungserzählungen weiter. Kein „etabliertes“ politisches Spektrum, nicht einmal die AfD, konnte, beziehungsweise wollte bisher diese Dynamik für sich nutzen und vereinnahmen. Mobilisierungsstarke Strukturen wie „Widerstand 2020“ diskutieren vielmehr über die Gründung einer eigenen Partei, mit welcher sie bei den Wahlen 2021 antreten wollen.

Gerade ist diese Bewegung auf der Suche nach Orientierung, Strategie und Perspektive. In diesem Zusammenhang werden die (internen) Konflikte immer deutlicher. Die Frage wird sein, ob sich dieses diffuse Spektrum als politische Kraft konstituieren kann und/oder welche anderen politischen Strömungen es schaffen, Teile bei sich zu integrieren. Gerade scheint es, dass alle staatlichen Parteien wie auch die Mainstream-Presse auf Isolation gegenüber dieser Bewegung gehen, wobei sich abzeichnet, dass die AfD zunehemend an Einfluss gewinnt. Der bisherige Umgang anderer Parteien wird sich ändern müssen, sollte die Bewegung erstarken und nicht mehr ignoriert werden können. Dann werden zunehmend auch Zugeständnisse, Vereinnahmungen und Integration die Strategie der etablierten Spektren sein.

Bisher speisen sich diese Demonstrationen nicht aus Menschen, die direkt von den  Maßnahmen und Isolation stark betroffen sind. Mobilisiert wird ein bürgerlich-alternatives Spektrum, dass an sich nicht grundlegend unter den Maßnahmen leidet.

Lage der antisystemischen Kräfte weltweit

Die Situation der Corona-Krise hat im Allgemeinen zu einer deutlichen Schwächung sozialer Bewegungen geführt. Trotzdem gehen viele Proteste weiter. Gerade feministische Kämpfe zeigen eine große Stärke und auch Erfolge konnten erzielt werden. So wurde beispielsweise nach massiven Protesten das Abtreibungsverbot in Argentinien gekippt.

Weitere wichtige Widerstände gegen die Strategien des System gegen die Chaos-Situation zeigen sich beispielhaft in den Aufständen Nigerias gegen die Brutalität von Polizei, Militär und Regierung. Frauen organisieren sich, unterstützen Aufstände, organisieren Krankenwagen. Insgesamt  gibt es einen Aufbruch der Bevölkerung gegen die Dauerangriffe und die Brutalität des Staates. Auch in Chile, Algerien und dem Libanon gibt es eine Wiederaufnahme von Protesten, die schon vor Corona begonnen hatten.

Trotz der Bewegungen, zeichnet sich kein gemeinsames Projekt der antisystemischen Kräfte ab, das die Kräfte und Dynamiken bündeln könnte. Einen Schritt in diese Richtung geht die Initiative der EZLN, die Bewegungen von Unten auf allen Kontinenten zu besuchen. Es ist als Versuch zu bewerten, die antisystemischen Kräfte durch Stärkung, Verbindung und Organisierung in die Offensive zu bringen.

Die Lage der antisystemischen Kräfte in der BRD

Die Linke in Deutschland konnte bisher, trotz der nun mehrere Monate anhaltenden Dynamik und der absehbaren Zunahme, keinen Umgang mit der Corona-Situation im allgemeinen und speziell mit den Protesten finden. Ein strategischer Umgang scheint bisher nicht absehbar. Vielmehr breiten sich Verschwörungserzählungen weiter aus und haben mittlerweile auch Kreise der alternativ-linken Szene erreicht.

Nach der Dynamik um Pegida und der Entstehung der AfD scheint dies die zweite Welle innerhalb der letzten Jahre gesellschaftlicher Dynamiken zu sein, auf die die Linke keine angemessene Antwort finden konnte. In diesen Konflikten scheinen große Teile der Linken staatstreu und als Verteidigerin der positivistischen Wissenschaft. In der Strategie des reinen Abwehrkampfes und Gegenprotests wird die fehlende Perspektive der Linken einmal mehr deutlich.

Ansätze einer eigenen Antwort auf gesellschaftliche Probleme, die durch die Corona-Krise verschärft wurden, zeigen sich im Aufbau von kleinen solidarischen Gemeinschaften oder in den vereinzelt noch aktiven Nachbarschaftshilfen – auch wenn diese Initiative stark abgeflaut ist und in keine alternative Struktur geleitet und eingebunden werden konnte.

Viele Bewegungen, wie Black Lives Matter oder die Klimabewegung, haben es auch nach den ersten Erfahrungen der veränderten Kampfbedingungen durch die Corona-Maßnahmen nicht geschafft, ihre Mobilisierungskraft wieder aufzubauen. An ihre Stelle treten zunehmen spontane, jugendliche Proteste und Aktionen in verschiedenen Städten gegen die Polizei.

Migrantische Communities sind während den Aufständen in ihren Heimatländern, wie auch zum Beispiel zum Krieg in Armenien oder als Bewegungen wie Black Lives Matter, auch in der BRD besonders aktiv und waren mit Demos und Straßenblockaden sichtbar. Diese Momente bieten die Möglichkeiten, Beziehungen zwischen den Communities und Bewegungen herzustellen.

Währenddessen nimmt die gesellschaftliche Polarisierung weltweit weiter zu. Ein letztes Beispiel sind die Mohammed-Karikaturen in Frankreich, die zu weltweiten Protesten gegen Frankreich geführt haben. In diesen Dynamiken liegt die Gefahr, als revolutionäre Linke zwischen den Fronten eines westlichen rassistischen Chauvinismus und einem islamistischen Faschismus aufgerieben zu werden. Das gleiche gilt für die BRD, zwischen – den sich vermeintlich gegenüberstehenden Kräften – Staat und Verschwörungserzähler*innen.

Der angekündigte Besuch der Genoss*innen von der EZLN hat auch in Deutschland innerhalb linker Strukturen für Bewegung gesorgt. Es gilt, diese sich (neu) bildenden Verbindungen nicht nur punktuell zu betrachten, sondern sie zu verstetigen und mit Fragen der Organisation und der Perspektive zu verbinden und langfristig aufzubauen.

Angesichts der gesellschaftlichen Krisen und fehlenden Antworten ist es umso dringender, den Aufbau des Demokratischen Konföderalismus als die Perspektive zur gesellschaftlichen Selbstorganisierung zu vermitteln und zu verstetigen. Denn eine Lösung aus dem Chaos setzt ein klares Paradigma, Programm und Strategie der antisystemischen Kräfte voraus.“


[1] Die Bezeichnung „Antisystemische Kräfte“ nutzen wir als Analyseeinheit, ebenso wie die kurdische Bewegung. Es bezeichnet alle demokratischen und antisystemischen Kräfte weltweit, die gegen Ausbeutung, Unterdrückung und für die Freiheit kämpfen. Diese können in ihren Kämpfen unterschiedlich starke Linien und verschiedene Strategien verfolgen, sie eint allerdings, dass sie auf Grundlage bestimmter Werte gegen das System ankämpfen.

[2] Auch diese spezielle Bezeichnung übernehmen wir von der kurdischen Bewegung. In der Analyse der Bewegung kommt es in Abständen zu Chaosintervallen oder Momenten, in denen die Krise des Systems deutlich wird. Es entstehen darin Momente, in denen es die Möglichkeit zu großen Veränderungen und die Suche nach neuen Wegen gibt. Was diese Phasen und Momente auslösen und bewirken können, hängt dabei von dem Organisationsgrad und der Strategie der verschiedenen Kräfte ab.