Die von Rheinmetall entwaffnen organisierte Aktionswoche ist vorbei und wird als Erfolg gewertet. Mehrere hundert beteiligten sich an den Workshops, Veranstaltungen, Blockaden und Demonstrationen in Kassel. In der jungen Welt vom 17.09. wurde nun ein Fazit veröffentlicht.
„Es ist Sonntag, die Sonne scheint, und etwa 40 Antimilitaristen haben sich Ende August in der Goetheanlage in Kassel eingefunden, um das Camp von »Rheinmetall entwaffnen« aufzubauen. Angemeldet wurde bereits im März, wenige Tage vor Beginn untersagt die Stadt den geplanten Aufbau am Sonnabend und bestimmt als Termin Dienstag, den Tag, an dem das eigentliche Camp mit Workshops und Veranstaltungen beginnen soll. Der Fall landet vor Gericht – in einem Vergleich wird schließlich Sonntag zwölf Uhr mittags genehmigt.
Der Boden ist durch wochenlange Trockenheit hart wie Beton, was den Aufbau des zentralen Zirkuszeltes erschwert und für eine deutliche Lärmbelästigung in dem Wohngebiet sorgt. Doch die Anwohner bleiben in der Mehrheit interessiert stehen und lassen sich über das Geplante aufklären. Aktivisten geben Auskunft zur politischen Zielrichtung des Bündnisses und darüber, warum gerade Kassel als Proteststandort ausgesucht wurde. Mit dem gewählten Datum rund um den Antikriegstag am 1. September sind nicht alle einverstanden, musste doch der »traditionell« in der Goetheanlage am letzten Ferienwochenende stattfindende SPD-Kinderflohmarkt um eine Woche verschoben werden. Er hätte sich auch gut in das Camp integrieren lassen, Interesse von seiten der örtlichen Sozialdemokraten dazu wurde jedoch nicht signalisiert.
Kassel ist seit langem Rüstungszentrum. Nicht ohne Grund wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg besonders intensiv von den Alliierten ins Visier genommen. Neben Produktionsstätten des größten deutschen Kriegskonzerns Rheinmetall sind in der Stadt auch Krauss-Maffei Wegmann (KMW) vertreten und mit PSM ein Joint Venture der beiden Unternehmen, dazu zahlreiche Zulieferbetriebe, die militärisch nutzbares Gerät herstellen wie zum Beispiel das Mercedes-Benz-Werk Kassel. Dabei werden Waffen und Kriegsgerät mitten in der Stadt produziert, durch die Straßen fahrende Panzer auf Lkw sind für die Anwohnenden Alltag. Natürlich sind viele von ihnen Teil der Maschinerie: Die drei genannten Rüstungskonzerne beschäftigen zusammen 2.500 Menschen. Aber Konversion ist möglich, wie die Vergangenheit zeigt. Als Rheinmetall nach dem Zweiten Weltkrieg für einige Jahre die Rüstungsproduktion untersagt wurde, stellte das Unternehmen kurzerhand auf Schreib- und Nähmaschinen um. Zuletzt hat sich der Konzern Anfang der 2000er Jahre aber dann doch der lästigen zivilen Sparten entledigt und setzt jetzt voll auf Kriegsproduktion, ebenso wie KMW.
Und Kassel ist »Documenta-Stadt« – in diesem Jahr findet die 15. Ausgabe der internationalen Kunstausstellung noch bis Ende September statt. Was schon den Einwohnern selten in dieser Dimension klar ist, dürfte dem Kunstpublikum noch weniger bewusst sein. Das wollte das Bündnis ändern – und es ist ihm auch gelungen. Zwei große Demonstrationszüge durch die Innenstadt von Kassel, eine erfolgreiche Blockade des Werks von KMW zwischen Schiller- und Wolfhager Straße sowie ein vielfältiges und internationalistisches Campprogramm haben eindrücklich das Motto des Bündnisses in die Öffentlichkeit getragen: Krieg beginnt hier – lasst ihn uns hier stoppen!
Der Protest des Bündnisses richtet sich jedoch nicht gegen die Beschäftigten der Konzerne. Um das deutlich zu machen, ziehen Aktivisten am Mittwoch zu Beginn der Morgenschicht auch zu den jeweiligen Eingangstoren, um das Gespräch mit den Beschäftigten zu suchen und mit Hilfe von Flugblättern über die Hintergründe von »Rheinmetall entwaffnen« aufzuklären. Am Freitag, dem zentralen Aktionstag, geht es dann frühmorgens in mehreren Gruppen los: Ziel ist das mittlere von drei KMW-Werken in der Kasseler Innenstadt, dessen Eingangstore per Menschenblockade dichtgemacht werden sollen.
Ab fünf Uhr morgens sind die Aktivisten vor Ort, teils mit Fahrrädern, die zur Blockade einer Eingangstür verwendet werden. Während der Protest an der Wolfhager Straße von der Polizei – abgesehen von der üblichen aggressiven Grundhaltung – mehr oder weniger geduldet wird, fackeln die Beamten auf der anderen Seite des Werks nicht lange. Auf eine Materialblockade, die zur Verstärkung errichtet wird, reagieren die Polizisten mit unmittelbarem und heftigem Tränengas- und Schlagstockeinsatz. In einem Bericht des Vereins Sanitätsgruppe Süd-West, der die Blockaden mit Sanitätern begleitet hat, heißt es: »In der Folge mussten insgesamt 87 Personen (80mal Pfefferspray, siebenmal chirurgisch) behandelt werden. (…) Im Zuge der Polizeimaßnahmen wurde auch ein Sanitäter der Sanitätsgruppe Süd-West e. V. durch Pfefferspray verletzt, während er sich in einer Patientenbehandlung befand.« Die Polizei lässt verlautbaren, Beamte seien von Protestteilnehmenden mit Gegenständen beworfen, acht Polizisten leicht verletzt worden. Einem Polizisten sei von einem Aktivisten der Einsatzhelm vom Kopf gerissen und dann über das Tor geworfen worden. »Wenn das stimmt, hätten wir Geschichte geschrieben. Noch nie ist es in der BRD gelungen, einem Bullen im Einsatz seinen Helm vom Kopf zu ziehen und zu entsorgen«, kommentiert das ein Teilnehmer der Blockade via Twitter.
Als sich abzeichnet, dass die Morgenschicht aufgrund der Blockade ausgesetzt wird, schließen sich die beiden Gruppen zu einer Spontandemonstration zusammen. Gemeinsam ziehen Hunderte Aktivisten durch die Stadt zurück ins Camp im Stadtteil Vorderer Westen. Gestärkt durch ein Frühstück des Küchenkollektivs, das dreimal am Tag die Teilnehmenden mit leckerem Essen versorgt, geht es um neun Uhr wieder los. Ziel dieses Mal: Eine Kundgebung vor dem Industriepark Mittelfeld. Dort befindet sich ein Produktionsstandort von Rheinmetall wie auch ein Verwaltungsgebäude und eine Panzerteststrecke. Papierflieger mit, auf das sogenannte Sondervermögen bezogen, der Forderung nach »100 Milliarden besseren Ideen« werden über den Zaun gesandt, ein »Die-in« in der Zufahrtsstraße symbolisiert die Zerstörung, die durch Kriegskonzerne wie Rheinmetall befeuert wird.
Das Camp, das mittlerweile rund 500 Aktivisten beherbergt, findet seinen kraftvollen Abschluss am Sonnabend, als bis zu 1.000 Menschen unter dem Motto »Gegen Aufrüstung und Militarisierung« durch die Straßen Kassels ziehen. Vorbei auch am zuvor blockierten KMW-Werk, das mittlerweile mit roten Farbklecksen gut erkennbar markiert wurde und in dem auch an diesem Tag noch die Bänder stillstehen. Die Polizei zieht es jedoch wieder vor zu eskalieren. Wie das Grundrechtekomitee, das Camp und Demonstrationen vom 1. bis 3. September begleitete, abschließend festhält: »Wir haben den Eindruck gewonnen, dass in Kassel allein die Polizei entschieden hat, wann es zu einer Eskalation kommt – unabhängig vom Verhalten der Protestierenden. Während einzelne, auch spontane Versammlungen, ungehindert laufen konnten, gab es in anderen Situationen ein aggressives Auftreten der Polizei sowie einen schnellen Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray – und das, obwohl die Demoteilnehmer sich ähnlich verhalten haben.«
[Ursprüngliche Nachricht vom 20.08.2022]
Seit Monaten mobilisiert der Zusammenschluss „Rheinmetall entwaffnen“ für den Zeitraum des 30. August bis 4. September zu einem Aktionscamp inkl. Demonstration nach Kassel- dem Zentrum der Produktion von Kriegsgütern in Deutschland. Auch wir hatten die Gelegenheit uns im Rahmen einer Mobilsierungsveranstaltung in Braunschweig sowie durch Flugblattverteiler und Aufkleber daran zu beteiligen. Im folgenden ist hier der Mobilisierungsaufruf zu lesen.
Im Kugelhagel
Die Militarisierung ist zurück. Und sie ist gekommen um zu bleiben, und um unsere Gesellschaft grundlegend zu verändern. Aufrüstung ist laut Regierungsparteien und vielen Medien die alternativlose Antwort auf die aktuellen Verhältnisse – moralisch-ethische Notwendigkeit, einziger ehrlicher Ausdruck von Solidarität. Wer sie ablehnt oder auch nur in Frage stellt, wird verunglimpft, ergreift Partei für Russland oder sei ignorant und weltfremd. Es ist wie immer: Es gibt nur noch Freund und Feind, Schwarz und Weiß, Kritik ist Verrat. Es ist nicht leicht, gegen den Krieg zu sein, sobald er tatsächlich angefangen hat. Dabei steht Militarisierung in Wirklichkeit für das, für was sie immer schon stand: Leid und Elend für große Teile der Bevölkerung.
Der Krieg in der Ukraine
Der russische Angriffskrieg ist ein Desaster für die Menschen in der Ukraine und auch für einen Großteil der Bevölkerung in Russland. Letztere hat am Anfang des Krieges versucht, für Frieden auf die Straße zu gehen. Sie haben es nicht geschafft, mächtig zu werden. Wir haben es nicht geschafft, sie zu unterstützen. Statt nach Frieden wird auch hier vermehrt nach schweren Waffen gerufen.
Doch um Frieden zu erreichen braucht es die Verweigerung derjenigen, deren Leben in diesem Krieg geopfert werden. Noch mehr Waffen werden dem Sterben kein Ende bereiten – der Ukraine droht ein jahrelanger Krieg, unzählige Tote sind schon jetzt zu beklagen. Die territorialen Grenzen des ukrainischen Nationalstaates um jeden Preis zu wahren, die Ukrainer*innen als Kanonenfutter im russischen Angriffskrieg zu verheizen, dies kann und wird nicht der Fluchtpunkt unserer Politik sein.
Aufrüstung im Zeitraffer
Die Herrschenden stellen den Ukrainekrieg als Paradigmenwechsel dar, dabei schreibt er die Entwicklung der letzten Jahrzehnte lediglich fort. Das gilt zum einen für das Gezerre um die Ukraine als geopolitische Einflusszone zwischen NATO und Russland, aber es gilt auch global: Kriege sind schon lange Alltag für Millionen Menschen auf der Welt. Je mehr sich die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen weltweit zuspitzen, desto heftiger und zahlreicher werden die militärischen Konflikte.
Die westlichen Staaten befeuern diese Entwicklung ebenso wie Russland oder China, auch wenn sie ihre Motive in anderem Gewand verschleiern. Die einen reden von der »notwendigen« Verteidigung angeblich »westlicher Werte«, andere wie jüngst Russland handeln aus angeblicher »Notwehr«. Schlussendlich setzen sie alle ihre geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen mit militärischen Mitteln durch – sei es in Mali, Libyen oder Rojava. Die Doppelmoral, mit der Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilt wird, während die Türkei dasselbe unkommentiert in den kurdischen Autonomiegebieten vollzieht, ist an Zynismus und Heuchelei kaum zu überbieten.
Hier in Deutschland können uns nun angeblich nur 100 Milliarden für die Bundeswehr vor dem »Feind im Osten« bewahren. Doch so gut wie alles, was nun im Rahmen der 100 Rüstungs-Milliarden beschafft werden soll, war auch schon vor dem russischen Angriffskrieg geplant. Die Zielmarke von 2% des BIP für Aufrüstung ist schon seit 2014 im Gespräch. Der Etat des Kriegsministeriums ist seit 2014 von 32,4 auf 46,9 Milliarden Euro in 2021 gestiegen. Olaf Scholz’ »Zeitenwende« ist in Wirklichkeit ein Zeitraffer. Das Möglichkeitsfenster, das unser kollektiver Schockzustand nach dem Beginn des Krieges geöffnet hat, wurde routiniert ausgenutzt.
In den Konzernzentralen der Rüstungskonzerne knallen derweil die Champagnerkorken, die Aktienkurse explodieren. Sie wissen: ihr Profit geht weit über den ökonomischen hinaus. Die Hauptprofiteure von Kriegen – verantwortlich für Hunger, Elend und Tod – werden zu „sozial nachhaltigen“ Garanten von Freiheit und Sicherheit.
Militarisierung
Militarisierung greift tief in unsere Gesellschaft ein. Sie kann dabei ans Patriarchat anschließen. Männer werden in eine kämpfende »heroische« Rolle an der Front gezwungen, Frauen in eine schutzbedürftige, bemitleidenswerte Position gedrängt. Der ukrainische Staat macht dies zur Staatsdoktrin, indem er Deserteure oder Kriegsdienstverweigerern die Ausreise verweigert oder sie in den Knast steckt.
Wer aus der Ukraine fliehen darf, wird in der EU willkommen geheißen. Solange es sich um weiße Menschen handelt, die in die Geschlechternormen passen. Alle anderen erleben an den Außengrenzen nach wie vor Drangsalierung, illegale Push-Backs, Lebensgefahr. Ebenso wie alle anderen, die vor den „falschen Kriegen“ geflohen sind. Die in Internierungslagern sitzen, an Grenzen erfrieren, im Mittelmeer ertrinken.
Und auch der Ausbruch aus der fossilen Ökonomie rückt in weite Ferne – er wird der Logik der sich verschärfenden Konkurrenz geopfert. Fracking in Deutschland und Flüssiggas aus den Diktaturen des Nahen Ostens, Wiederanlaufen von Kohlekraftwerken und die Verlängerung der AKW-Laufzeiten – nichts ist derzeit undenkbar.
Unser Widerstand
Als Internationalist*innen und Antimilitarist*innen stehen wir solidarisch an der Seite derer, die sich gegen Kriege auflehnen – die sabotieren, desertieren, sich entziehen. Wir kämpfen mit denen, die ihren Kriegsherren die Gefolgschaft verweigern. Solidarität bedeutet die kriegstreiberische Hetze zurückzuweisen und zu erkennen, dass unsere Verbündeten jenseits der Fronten stehen. Die Grenze verläuft noch immer zwischen oben und unten.
Wir sind nicht allein. Unsere Genoss*innen sind in Italien, Südafrika, Australien, in Russland und auch in der Ukraine. Wir sind viele, und wir sind vielfältig. Wir sind die Kurdistan-Solidarität, wir sind der Kampf gegen die Grenzregime, wir sind Gewerkschaftler*innen, wir sind die Klimagerechtigkeitsbewegung, wir sind Feministinnen und Pazifist*innen. Der Kampf gegen Militarisierung eint uns, denn sie bedroht uns alle. Lasst uns in dieser widerständigen Vielfalt zusammenkommen – lasst uns gemeinsam leben, lernen und kämpfen.
Gemeinsam nach Kassel
Wir gehen in die Stadt, die wie kaum eine andere für die Kontinuität deutscher Rüstungsproduktion steht. Nicht zuletzt deshalb wurde sie im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört, und doch findet in ihrem Zentrum noch immer Rüstungsproduktion statt, gehört der Transporte von Panzern zum alltäglichen Straßenbild.
Wir rufen euch auf, vom 30.08. bis 04.09.2022 zu Camp, Aktionstagen und Demonstration nach Kassel zu kommen. In einer Zeit, die durch die Documenta15 – die weltweit größte Ausstellung moderner Kunst – geprägt ist. Die Welt beobachtet und besucht diese Stadt. Und sie soll unseren Widerstand sehen.
Die Kriege dieser Welt müssen so schnell wie möglich beendet werden. Wir stellen uns gegen Militarisierung und Aufrüstung. Wir brauchen 100 Milliarden Euro für Gesundheit, Bildung und den ökologischen Wandel, anstatt sie der Rüstungsindustrie in den Arsch zu schieben. Wir wollen raus aus dem globalen kapitalistischen System, das so viele Katastrophen, Krisen und Kriege mit sich bringt.
Wir rufen euch auf:
* Kommt zum Camp mit Aktionstagen vom 30. August bis 4. September in die Goetheanlage in Kassel.
* Entert mit uns die Rüstungsproduktion in Kassel am 2. September.
* Kommt zur Demonstration am Samstag, 3. September um 13 Uhr am Hauptbahnhof Kassel.
Rheinmetall Entwaffnen, Juni 2022